Wer braucht in der digitalen Welt eigentlich noch Wahlplakate? Sie verunstalten die Städte und ergeben schließlich einen großen Müllberg. Und doch steckt in ihnen jede Menge Psychologie, zum Beispiel der Mere-Exposure Effekt: Je öfter wir etwas sehen, desto sympathischer wird es uns. Und wenn wir jemanden sympathisch finden, wählen wir ihn eher. Deshalb lächeln auch klassischerweise auf allen Plakaten die Spitzenkandidaten um die Wette.
Für tiefgreifende Inhalte bleibt da wenig Platz und Zeit. Plakate müssen schnell funktionieren und ihre Kernbotschaft vermitteln, – im Vorbeigehen oder -fahren. Während früher deutlich mehr Inhalte via Plakat vermittelt werden mussten, sind sie heute nur ein kleiner Teil im großen Medienmix. Die Grünen sind dabei echte Minimalisten: Ein einziges Wort auf dem Plakat reicht. Die FDP-Aussage besteht dagegen gleich aus einem ganzen Satz, der auch noch mit einem ironischen Twist daherkommt. Versteht auf die Schnelle vielleicht nicht jeder, hebt sich aber deutlich von den Konkurrenten ab. Die SPD verlängert auf ihren Plakaten die Aussagen mittels QR-Code ins Digitale. Wer sich die Scan-Mühe macht, sieht noch eine Videobotschaft von Olaf Scholz zum entsprechenden Thema.
Die Parteizugehörigkeit erschließt sich sowieso schnell aus der entsprechenden Farbwelt. Da gibt sich beispielsweise die SPD ganz staatstragend und addiert zum SPD-Rot noch Schwarz und Gelb bzw. Gold hinzu, während die CDU ihr vor zwei Jahren erarbeitetes CD mit Cadenabbia-Türkis und Rhöndorf-Blau nutzt, das doch irgendwie in die AFD-Farbpalette zu passen scheint und mogelt sich um das ihr symbolisch zugeschriebene Schwarz herum.
Interessant ist auch die unterschiedliche Fotoauffassung auf den Wahlplakaten. Olaf Scholz mit Hemd und Krawatte, mit verkniffenem Mund, ganz staatsmännisch frontal ausgerichtet und exakt in der Plakatmitte inszeniert. Solide, aber nicht unbedingt dynamisch. Das Bild von Friedrich Merz scheint im Vorübergehen aufgenommen worden zu sein. Während der Kandidat mit einer Person außerhalb des Bildes zu kommunizieren scheint. Geschäftig und aktiv sieht das aus. Alice Weidel hingegen scheint von oben auf den Betrachter herabzusehen, was der etwas unterhalb liegenden Kameraposition geschuldet ist. Die FDP erzeugt eine Uniqueness durch die Schwarz-Weiß-Portraits mit Unschärfen im Vordergrund. Designed und stylish vor allem durch den Kontrast zu den gelben Farbakzenten der Textunterlegung.
Aktuell befinden wir uns in der letzten, heißen Plakatierungsphase.Die Parteien feilen noch an ihren Botschaften und versuchen, Stimmen zu sammeln. Kleinere Parteien plakatieren oft gezielt in den Vierteln, in denen sie bei vergangenen Wahlen gut abgeschnitten haben – ein kleiner Hinweis darauf, wie die Nachbarn politisch so ticken. Wahlplakate sind also nicht unbedingt der beste Weg, um Inhalte zu vermitteln, aber sie schaffen es, sich in unsere Wahrnehmung zu schleichen und uns unbewusst zu beeinflussen. Wer es auch immer ganz nach oben auf der Sympathieskala geschafft hat: Sonntag nicht vergessen – wählen gehen!